Michail Michailovic Bachtin
1918 Abschluss des Studium der Altphilologie in St. Petersburg; erste Veröffentlichungen sind unter den Namen von Frenden erschienen: V. N. Voloshinov und P. N. Medvedev
1922: B. erkrankt an chronischer Knochenmarksentzündung
1929: eine erste Studie zu Dostojevskij erscheint; noch im selben Jahr politische Verhaftung Bachtins unter Stalin und Verbannung nach Kustanaj (Kasachstan), wo B. als Bibliothekar, Privatgelehrter, Lehrer und Dozent arbeitete. In der politischen Verbannung schließt B. die Untersuchung »Das Wort im Roman« ab
1936: Rehabilitation: B. zieht nach Kimry (nördl. von Moskau) wo er seine Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman abschließt; Manuskript geht im Zweiten Weltkrieg verloren
1940: Seine Dissertation: »Rabelais in der Geschichte des Realismus« wird abgelehnt
Anfang 60er Jahre: politische Rehabilitation B.s
1963: »Probleme der Poetik Dostojevskijs« (2. Auflage) und »Das Werk von François Rabelais und die Volkskultur von Mittelalter und Renaissance« erscheinen
1972: Aufenthalt in der Künstler- und Schriftstellerkolonie Peredelkino; anschließend Bezug eines der Moskauer Häuser des Schriftstellerverbandes
In seinen beiden Hauptwerken »Problemy tvorcestva Dostoevskogo« und »Slovo v romane« entwickelt Bachtin seine Vorstellung einer „postkopernikanischen Literatur“, einer Literatur, die sich, im Anschluß an die mittelalterliche karnevaleske Lachkultur von einer logozentristischen und monologischen Weltsicht, wie sie die sog. „erste stilistische Linie“ – Epos und Realistischer Roman – repräsentiert, emanzipiert und daneben eine „zweite stilistisiche Linie“ – Rabelais Romane, Menippische Satire, Schelmenroman, u.a. – setzt, die durch ihren dialogischen Charakter gekennzeichnet ist.
In dem von Bachtin geprägten Begriff der Dialogizität bündeln sich dessen Vorstellungen einer offenen, polyvalenten und subversiven humoristisch-parodistischen Prosaliteratur. Wie der Karneval des Mittelalters, in dem autoritär-dogmatische Herrschaftsmuster parodistisch umgekehrt werden durften, das Volk, der Narr, für die Dauer des Karnevals König und der sozial Niedrige gleichgestellt mit dem sozial Höheren in einen verbindenden Rausch des Körpers eintritt und der die „Freiheit des mittelalterlichen Lachens“ mit dem „Universalismus“ und der „nichtoffiziellen Wahrheit des Volkes“ verband, so übernahm die Literatur bereits im ausgehenden Mittelalter diese Funktionen (Literatur und Karneval).
Im polyphonen Roman, der mit Rabelais seinen Ausgang nahm, bündeln sich Hochsprache, Dialekte, Soziolekteund Idiolekte zu einer Stimmenvielfalt, die die monologische Stimme des Autors überdeckt und unterschiedlichste Stimmen, Meinungen, Wahrheiten und Ideologien miteinander in einen Dialog versetzt. Die Figuren des Romans sprechen für sich selbst und eröffnen so eine Vielzahl von Stimmen und Diskursen, die in räumlichen, zeitlichen und ideologisch differierenden personalen Welten verschmelzen (Hybridisierung) (Das Wort im Roman).
Die dialogische Struktur des Romans hat zur Folge, dass sich keine kohärenten, sinnstiftenden Zusammenhänge mehr erschließen lassen; die Dialogstruktur zwischen dem Selbst und dem Anderen kann Erkenntnisse nur im Moment evozieren, ihre Gültigkeit aber muss ephemer, transitorisch bleiben.
Bachtins Arbeiten werden oft (z.B. bei Holquist 1982 ) als verdeckte Anklage des Stalinismus und dessen, was aus der Oktoberrevolution geworden ist, gelesen. Ob er nach seiner ‚Entdeckung’ in den 60er Jahren tatsächlich zum „Modetheoretiker“ avancierte, sei dahingestellt; sein Einfluss auf die postmoderne Literaturwissenschaft, insbesondere auf den von Kristeva und Todorov geprägten Intertextualitätsbegriff ist jedoch eminent.
Werke:
»Problemy tvorcestva Dostoevskogo«; Erstausgabe Leningrad 1929
(Dt. u. d. T.: Probleme des Schaffens Dostojevskijs, München 1971)
»Rabelais und seine Welt.
Erstveröffentlichung 1963 (1940)
Volkskultur als Gegenkultur zum dominierenden Status Quo kirchlich-staalicher Ordnung; Funktion des Karneval
»Problema soderžanija, materiala i formy v slovesnom chudožestvennom tvorcestve« ca. 1924; Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen
»Slovo v romane« 1934-35; Das Wort im Roman
»K metodologii literaturovendenija« 1974; Zur Methodologie der Literaturwissenschaft
»Voprosy literatury i èstetiki« 1919-74; Separater Erstdrucj der Arbeiten 1956-74; Erstausgabe: Moskau 1975
Dt. u. d. T.: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt am Main 1979.
(S.M.)